Bei agiler Arbeit ist die maßgebliche Organisationsstrategie die Selbstorganisation, weil sie einer komplexen und dynamischen Umgebung besser gerecht wird als steuernde Ansätze. Damit fallen ein paar der klassischen Führungsaufgaben weg, denn Methode und Struktur der Arbeit braucht nicht mehr extern geliefert zu werden.
Die Interaktion mit der Aussenwelt – die Abhängigkeiten zu anderen Organisationsteilen, der Zugriff auf Ressourcen und nicht zuletzt alle die Dinge, die ein Team nicht selbst lösen kann – bleiben aber als Aufgabe erhalten. Das führte dazu, dass Servant Leadership zur dominanten Führungsstruktur in agilen Umgebungen wurde, die nicht zuletzt in der Rolle des Scrum Masters operativ verkörpert wird.
Der Servant Leader in funktionierenden Environments
Die Idee, als agile Führungsperson ein Servant Leader zu sein, der seine Kollegen stützt, ihnen Probleme aus dem Weg räumt, Ressourcen zur Verfügung stellt und insgesamt ihre Arbeit erleichtert, resoniert mit vielen Menschen. Wem soziale Interaktion wichtig ist, wem die Verbundenheit mit anderen am Herzen liegt, der freut sich darüber, als Servant Leader hauptberuflich philanthropisch agieren zu können.
Wenn das agile Team funktioniert, wenn es eigenverantwortlich arbeitet und sich selbst organisiert, dann bildet Servant Leadership den perfekten Counterpart. Alle Probleme, die das Team selbst lösen kann, löst es auch selbst; nur die Themen, die sich natürlich außerhalb des Teams befinden, werden an den Servant Leader weitergegeben.
Diese Arbeitsteilung entspricht den Kompetenzen und den Einflussbereiche. In den meisten Fällen finden Bewertung, Entscheidung und Umsetzung an der gleichen Stelle statt und wird damit nicht nur effizient, sondern auch effektiv.
[smartblock id=“7056″]… und in den anderen
Anders sieht es aus, wenn das Team nicht funktioniert. Wenn das Team zwar die Mittel hätte, seine Probleme selbst zu lösen und sich selbst zu organisieren, es das aber nicht tut. In Folge stauen sich die Probleme ungelöst an, die Stimmung sinkt und das Team beklagt sich über die schlechte Gesamtsituation, bei der auch keine Besserung in Sicht ist.
Probleme landen dann implizit – weil sie wahrgenommen werden – oder explizit – weil das Team sie an ihn delegiert – beim Servant Leader, der sich, seiner Rollen entsprechend, um die Lösung des Problems bemüht. Und bei der Umsetzung fragt sich der Servant Leader, warum das Team das nicht einfach selbst gemacht hat und er jetzt an Ihrer Stelle einspringen soll.
Darüber hinaus ist noch etwas seltsam: Unabhängig davon, wie viele dieser Probleme aus dem Weg geräumt werden, wird die Stimmung nicht besser. Stattdessen etabliert sich ein stetiger Fluß neuer Probleme. Und er fragt sich, warum seine Arbeit nicht nur so wenig Wirkung zeigt, sondern die Situation sogar zu verschlechtern scheint.
Eine Frage des Standpunkts
Schaut man auf die Seite des Teams, entdeckt man eine Selbstwahrnehmung in einer Position der Schwäche. Man handelt nicht, weil man nicht erwartet, damit wirksam zu werden.
Und auch wenn es auf den ersten Blick nach allem anderen als nach einer guten Position aussieht, so bietet das Wälzen von Missständen und beklagen von Problemen einen Benefit, der ganz unabhängig von der Beseitigung der Probleme existiert:
- Das Team bekommt mehr Aufmerksamkeit: Es gewinnt an Bedeutung, denn offensichtlich ist dort etwas nicht in Ordnung.
- Es entsteht Empathie: Andere Personen solidarisieren sich, möchten das Team unterstützen.
- Es entsteht ein Anspruch an die Außenwelt, den diese erfüllen muss.
- Das Team braucht nicht mehr die Verantwortung für die Aufgabe zu übernehmen (von der es sich z. B. überfordert fühlt).
- Das gemeinsame Ertragen und Erleiden der Situation schafft eine soziale Gemeinschaft.
- Zum Teil wird die Identifikation durch ein gemeinsames Feindbild gestärkt.
Servant Leader als Dysfunktion
Es ist offensichtlich, dass alle diese Muster mittelfristig nicht zur Verbesserung und Zufriedenheit führen können. In der konkreten Situation schaffen sie aber einen Ausgleich zu der existierenden Überforderung, und so bleiben sie erhalten.
Genau hier wird der Servant Leader selbst zu einem Teil der Dysfunktion. Er …
- liefert Aufmerksamkeit
- liefert Empathie
- bestätigt die Anspruchshaltung des Teams
- übernimmt die Verantwortung für die Aufgaben, die das Team nicht selbst löst
- profitiert persönlich von dem Gefühl, anderen zu helfen
Er wird selbst zu einem Teil der Belohnungsstruktur, die das Team in der passiven Opferrolle hält. Damit wird er mittelfristig weder dem Anspruch der Organisation, noch dem Team gerecht.
Den Durchbruch wagen
Es ist nicht leicht, dieses Konstrukt zu verlassen; vor allem, weil der Weg heraus meist nicht dem Persönlichkeitstyp des Servant Leaders entspricht. Ohne das Durchbrechen dieser Konstruktion wird er seiner Rolle aber nicht gerecht, denn nur ein eigenverantwortliches, selbstorganisiertes Team benötigt einen Servant Leader.
- Es gibt keine Aufmerksamkeit der Aufmerksamkeit wegen. Wenn es ein Problem gibt, das nur mit externer Hilfe zu lösen ist: gerne. Wenn nicht, dann ist es nicht Aufgabe des Servant Leaders.
- Empathie gibt es, aber für alle Beteiligten in gleicher Menge. Es gibt keinen Anspruch von Teams, mehr Empathie als andere Parteien zu bekommen.
- Ansprüche gibt es, aber nicht mehr als andere – und nicht mehr als sinnvoll für das Gesamtsystem
- Das Team trägt für die Dinge Verantwortung, die in seinem Handlungsbereich liegen. Er kann hier stützen und Selbstwirksamkeit erfahrbar machen, aber nicht die Verantwortung abnehmen.
- Helfersyndrom und Märtyrer-Status helfen hier nicht, sondern schaden – nicht zuletzt genau den Kollegen, denen man eigentlich helfen möchte.
Und auch wenn für dieses Konstrukt der Verfolger aus Karpmans Dramadreieck gar nicht erforderlich ist: Auch für das hier skizzierte Konstrukt gibt es jede Menge guter Ideen, dieser Falle zu entkommen.
Danke an die Kollegen aus dem Mein-Scrum-ist-kaputt-Slack für den wertvollen Input.
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