Remote Impact-/Effort-Schätzungen (mit vielen Stakeholdern)

Remote Impact-/Effort-Schätzung (mit beliebig vielen Stakeholdern)

Avatar von Daniel Prokscha

Remote-Meetings – wie beispielsweise eine Impact-/Effort-Schätzung – sind in der aktuellen Zeit Gang und Gäbe. Praktisch jedes Meeting, das man vor der Corona-Pandemie schnell und vor allem routiniert mit den Kollegen durchgeführt hat, wurde zwischenzeitlich durch eine Videokonferenz ersetzt.

Der eine oder andere Moderator solcher Videokonferenzen kennt auch ihre Herausforderungen: Die Verbindung ist schlecht, die Verwendung neuer Tools ist nicht routiniert, Aufmerksamkeit und Disziplin können nicht lange aufrecht erhalten werden, Kinder und Haustiere finden Kameras und bewegte Bilder mega spannend, … die Begleiterscheinungen des Homeoffice sind mannigfaltig, situationsbedingt natürlich auch erheiternd, aber stören letztendlich den Fluss.

Leider steigt die Anzahl dieser Störungen unweigerlich mit der Anzahl der Teilnehmer einer Videokonferenz und irgendwann ist die kritische Teilnehmeranzahl erreicht, bei der es garantiert zu Störungen kommen wird.

Trotz jahrelanger Erfahrung mit Remote-Arbeit fragt man sich als Moderator solcher Videokonferenzen unweigerlich, wie man den Fluss in solchen Meetings aufrecht erhalten kann. Konkret stand ich vor der Herausforderung, mit ca. 25 Stakeholdern zur Priorisierung von Projekten eine Impact-/Effort-Schätzung durchführen zu müssen. Dafür habe ich mir etwas einfallen lassen …

Die Kunst der Reduktion

Der Schlüssel, um den Fluss einer Videokonferenz aufrecht zu erhalten, ist das Minimieren möglicher Störquellen. Audio und Video werden – die Moderation ausgenommen – von allen Teilnehmern deaktiviert. Das spart auch Bandbreite und sorgt für stabile Verbindungen.

Zusätzlich sollte man auf einen Wechsel des Kommunikations- bzw. Arbeitsmediums verzichten. Heißt, man sollte nicht von der Videokonferenz in ein Tool zur kollaborativen Zusammenarbeit wechseln. Insbesondere dann nicht, wenn dessen Nutzung den Teilnehmern nicht vertraut ist.

Aber was bleibt dann eigentlich zur Zusammenarbeit, wenn die bidirektionale Kommunikation unterbunden ist? Fast nichts. Und damit auch fast keine Störungen. Das Einzige, was wir wirklich zur effektiven Durchführung der Impact-/Effort-Schätzung brauchen, ist eine Videokonferenz mit einer Chat-Funktion.

Inspired by Twitch

Bei meiner Lösung habe ich mich von Twitch inspirieren lassen. Twitch ist eine Live-Streaming-Plattform, auf der hauptsächlich Videospiele übertragen werden. Bei der Übertragung fungiert der Spieler als Moderator und kommentiert das Geschehen. Erfolgreiche Streamer erreichen während einer Übertragung mehrere tausende oder gar zehntausende Zuschauer. Über einen Chat können die Zuschauer mit dem Streamer in Verbindung treten.

Natürlich rattern bei der Masse an Zuschauern die Nachrichten sehr schnell durch den Chat und es ist dem Streamer nur bedingt möglich, auf Nachrichten einzugehen. Allerdings hat sich auf Twitch ein Phänomen entwickelt, das wir uns für unsere Impact-/Effort-Schätzung zu Nutze machen: Der Streamer fragt das Stimmungsbild seiner Zuschauer ab, indem er sie auffordert, die Zahl 1 in den Chat zu schreiben, wenn sie seinen Ansichten folgen. 

Mit „Haut die 1 in den Chat, wenn ihr das auch so seht!“ und Ähnlichem werden die Zuschauer zur Teilnahme ermuntert. Dadurch entsteht bei eben jenen natürlich auch eine gewisse Gamification, da sie das Geschehen beeinflussen können und Feedback erhalten. Gleichzeitig kann der Streamer das Feedback einer großen Masse erfassen, ohne auf jeden Einzelnen eingehen zu müssen.

Vorbereitung ist alles

Bevor wir unseren Stream bzw. die eigentliche Schätzung starten, bedarf es etwas Vorbereitung. Im Vorfeld muss mit den Stakeholdern abgeklärt werden, was sie zur Schätzung der zu priorisierenden Projekte brauchen.

Hierzu ist es nötig, gemeinsam Qualitätskriterien zu definieren – in der Software-Entwicklung ist das vergleichbar mit der Definition of Ready einer User Story. Welcher Rahmen muss gegeben sein, damit ich als Stakeholder die mir fremden Projekte priorisieren bzw. schätzen kann? Diese Frage könnte beispielsweise asynchron von jedem einzelnen Stakeholder abgefragt werden.

Der Moderator konsensiert die Kriterien und stellt sie den Stakeholdern vor; das könnte in einer normalen Videokonferenz stattfinden. Die Fragestellung an jeden einzelnen Teilnehmer ist, ob sie die konsensierten Kriterien tragen, beispielsweise mit einer simplen Daumen-hoch/runter-Abfrage. Negative Rückmeldungen verarbeitet man direkt in den Qualitätskriterien.

Auch mit vielen Teilnehmern sollte so relativ zügig ein gemeinsames Bild entstehen. Prinzipiell wäre es auch möglich, die Qualitätskriterien in einer kleinen Gruppe auszuarbeiten und der Gesamtgruppe vorzugeben. Stehen die Qualitätskriterien fest, werden die Projekte der Stakeholder entsprechend darauf geprüft. Sollte ein Projekt nicht den Qualitätskriterien entsprechen, wird der Stakeholder aufgefordert, es entsprechend zu schärfen. Projekte, die zur Impact-/Effort-Schätzung nicht die Qualitätskriterien erfüllen, werden von der Schätzung ausgeschlossen – denn auch sie verhindern den Fluss des Meetings.

Schritt für Schritt

Kommen wir zur Durchführung der Impact-/Effort-Schätzung. Für jedes Projekt gehen wir folgende Schritte durch:

Schritt 1: Vorstellung/Pitch

  • Der Moderator fordert den Stakeholder auf, das Projekt in einem kurzen Pitch (ca. 1 Minute) vorzustellen
    • Hierbei sollte auch auf die im Vorfeld definierten Qualitätskriterien eingegangen werden (z.B. „Außenwirkung“ als Kriterium: Das Projekt hat eine hohe Außenwirkung, weil …)
  • Ist der Stakeholder nicht anwesend, kann auch ein Vertreter das Projekt vorstellen
    • Ist kein Vertreter anwesend, wird das Projekt übersprungen
  • Zur Vorstellung darf bzw. muss der Stakeholder Video/Ton einschalten
  • Alle anderen hören zu, Rückfragen sind nicht gestattet

Schritt 2: Ist das Projekt schätzbar?

  • Der Moderator fragt, ob das Projekt die im Vorfeld definierten Qualitätskriterien erfüllt und es für jeden schätzbar ist
  • Alle Teilnehmer schreiben in den Chat…
    • „0“ für NEIN
    • „1“ für JA
  • Bei überwiegend NEIN wird das Projekt übergangen
    • GRÜNDE NOTIERT JEDER TEILNEHMER FÜR SICH
    • Im Nachgang kann der Moderator die Gründe sammeln und dem Stakeholder des Projekts mitteilen, sodass dieser es nachschärfen kann

Schritt 3: Schätzung des Impacts

  • Ein Projekt hat einen hohen Impact, wenn bestimmte zuvor definierte Qualitätskriterien erfüllt werden
  • Der Impact wird auf einer Skala von „0“ (kein Impact) bis „10“ (hoher Impact) geschätzt –zulässig sind dabei NUR GANZE ZAHLEN
  • Alle Teilnehmer schreiben nach Aufforderung durch den Moderator EINE entsprechende Zahl in den Chat
    • Es wird nicht geprüft, ob alle Teilnehmer eine Schätzung abgegeben haben
    • Die Schätzrunde ist abgeschlossen, sobald keine weiteren Zahlen in den Chat geschrieben werden
  • Bei einem starken Delta der Schätzungen bittet der Moderator zur KURZEN Diskussion mit…
    • dem Stakeholder
    • einem Vertreter der höchsten Schätzung
    • einem Vertreter der niedrigsten Schätzung
  • Gemeinsam wird ein Schätzwert festgelegt

Schritt 4: Schätzung des Efforts

  • Ein Projekt hat einen hohen Effort, wenn bestimmte zuvor definierte Qualitätskriterien erfüllt werden
  • Der Effort wird auf einer Skala von „0“ (kein Effort) bis „10“ (hoher Effort) geschätzt. Auch hier gilt: NUR GANZE ZAHLEN
  • Alle Teilnehmer schreiben nach Aufforderung durch den Moderator EINE entsprechende Zahl in den Chat
    • Es wird nicht geprüft, ob alle Teilnehmer eine Schätzung abgegeben haben
    • Die Schätzrunde ist abgeschlossen, sobald keine weiteren Zahlen in den Chat geschrieben werden
  • Bei einem starken Delta der Schätzungen bittet der Moderator zur KURZEN Diskussion mit …
    • dem Stakeholder
    • einem Vertreter der höchsten Schätzung
    • einem Vertreter der niedrigsten Schätzung
  • Gemeinsam wird ein Schätzwert festgelegt

Schritt 5: Rang festlegen

  • Der Moderator addiert die Schätzungen des Impacts und des Efforts und notiert sie für das jeweilige Projekte
  • Hieraus ergibt sich die Priorisierung – je größer die Zahl, desto höher ist die Priorisierung des Projekts

… nächstes Projekt

Unsere Erfahrungen

Wie eingangs erwähnt haben ca. 25 Teilnehmer mit ebenso vielen Projekten mit Hilfe dieser Methode ihre Projekte priorisiert. Für die Vorbereitung – also das Sammeln und konsensieren der Qualitätskriterien – haben wir insgesamt etwa eine Stunde benötigt (eine kleine Gruppe hat die Kriterien ausgearbeitet und dem Rest vorgegeben). Das Schätzen der Projekte hat zwei Runden über jeweils eine Stunde in Anspruch genommen.

Zwei Runden waren ursprünglich nicht geplant, jedoch waren nicht immer alle Stakeholder oder deren Vertreter anwesend. Bei einzelnen Projekten waren die Qualitätskriterien nicht erfüllt und mussten im Nachgang entsprechend nachgearbeitet werden.

Insgesamt war die Resonanz der Teilnehmer durchweg positiv. Zugegebenermaßen waren die ersten Schätzrunden aufgrund des noch ungewohnten Formats etwas holpriger. Aber nach etwas Übung hat die Methode Störungen als auch langwierige Diskussionen unterbunden und einen zügigen Fluss sichergestellt. Nach wenigen Projekten stellte sich Routine ein und das Vorstellen sowie Schätzen eines Projekts hat nur ein paar Minuten gedauert.

Inspect & Adapt

Natürlich kann das vorgestellte Format auch auf andere Meetings adaptiert werden. Denkbar wäre auch, dass das Meeting über eine reine Telefonkonferenz stattfindet und die Schätzungen in einem eigenen Chat-Tool erfasst werden.

Welche Erfahrungen habt ihr mit Remote-Meetings mit vielen Teilnehmern gemacht? Und natürlich freuen wir uns über Feedback, wenn ihr die vorgestellte Methode selbst einmal angewendet habt.

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