Agiler Adventskalender: Psychologische Sicherheit

Agiler Adventskalender: Psychologische Sicherheit

Avatar von Michael May

Hinter dem 13. Türchen unseres Agilen Adventskalenders verbirgt sich die Antwort auf eine Frage nach der psychologischen Sicherheit:

Was ist diese „Psychologische Sicherheit“, über die alle sprechen?

Psychologische Sicherheit

Psychologische Sicherheit ist seit Jahren in aller Munde, als „Hauptzutat“ für Team-Performance. Leider wird häufig nur die Wichtigkeit betont – eine konkrete Auseinandersetzung, verbunden mit dem nötigen Zeitinvest, erfolgt hingehen selten. Zudem gibt es Fehlannahmen rund um das Konzept. Deshalb verkommt es meiner Meinung nach zu einem Buzzword.

Daher möchte ich heute darüber schreiben, was psychologische Sicherheit ist und mit ein paar Missverständnissen aufräumen.

Lasst uns mit den zwei Fehlannahmen beginnen und abgrenzen, was das Konzept nicht beinhaltet, ehe wir auf die Definition und Bedeutung kommen.

Die Aristoteles Studie

Bekannt wurde das Konzept durch die Google Aristoteles Studie (2012 ff.), basierend auf den Konzepten von Amy Edmondson und anderen Forschern (Amy Edmondson war nicht die Erste, aber wird aufgrund dieses Bezuges immer als Referenz genannt). Um hier keine wissenschaftliche Debatte zu führen werde, ich mich auch auf Amy Edmondson’s Konzept stützen.

Dabei ist wichtig festzuhalten, was Google hier untersucht hat: Performance

Die Frage war, was Teams performant macht, nicht wie sich Menschen wohlfühlen. 

Hier liegt der erste Fehlschluss vor: Psychologische Sicherheit hat nicht zum Ziel, dass wir eine Wohlfühlatmosphäre frei von Konflikten und Reibung haben, in der sich jeder in einer Komfortzone befindet. Ganz im Gegenteil! Die Verbesserung der psychologischen Sicherheit führt dazu, dass mehr Konflikte zu Beginn entstehen und diese klar offengelegt werden.

Das zweite Missverständnis basiert darauf, dass man „psychologische Sicherheit“ durch die Abwicklung von Workshops, Listen oder sonstiges Tools „erzeugen“ kann. Ja, diese Dinge sind auf dem Weg dahin wichtig. Aber psychologische Sicherheit ist ein sehr komplexes Konstrukt, das auf menschlicher Interaktion basiert und viel von den Personen, die es in Anwendung bringen möchten, fordert. Ihr denkt, man bringt ein Team binnen sechs oder 12 Monaten in einen „psychological safety state“?

Leider nein. Wieso das nicht klappt erläutere ich im Folgenden, wenn wir uns das Konzept genauer anschauen. 

Amy Edmondson

Starten wir mit der Definition von Amy Edmondson: 

Sie spricht von einem „shared belief held by members of a team that the team is safe for interpersonal risk taking“. 

Das klingt im ersten Moment ein wenig abstrakt. Im Kern geht es darum, dass man keine Angst vor Strafe oder Ächtung hat, wenn man seine Ideen, Fragen, Bedenken oder Fehler anspricht. 

Was hat das mit Team-Performance zu tun?

Im agilen Kontext werden meist komplexe Probleme durch Teams gelöst. Hierbei ist es wichtig zu kollaborieren, zu brainstormen und durch schnelle Inspect-&-Adapt-Mechanismen frühe und damit „günstige“ Fehler zu machen. Wenn ich jetzt aus Angst mit meinen Ideen, meiner Meinung und meinen Fehlern hinter dem Berg halte, verliert das Team Informationen, die am Ende Performance und Geld kosten. Wie schon gesagt, es ist ein Performance-Konzept. um als Team Leistung zu bringen und damit am Ende Geld zu verdienen – kein Kuschelkonzept. Das Wohlfühlen auf lange Sicht ist der Bonus!

Klingt auf den ersten Blick einfach: Sage bitte, was du denkst und gehe offen mit deinen Gedanken um und alle profitieren!

There is no easy path!

Leider ist es doch komplizierter. Das Entscheidende, was dabei oft übersehen wird, sind die Worte „interpersonal risk“. Wenn es uns leicht fallen würde etwas anzusprechen, würde es kein Risiko mehr darstellen. Wir Menschen sind risikoavers, das heißt Verluste werden gerne vermeiden und höher als mögliche Gewinne eingepreist. Daher erfordert es einiges an Überwindung und das Starten von sozialen Experimenten, hier einen Lernpfad zu erzeugen, der Schritt für Schritt diese Hürden senkt.

Dabei wird auch deutlich, wieso psychologische Sicherheit kein „Wohlfühlkonzept“ darstellt, auch wenn es manchmal danach klingt. Denn diese „Sicherheit“, die am Ende zu einem erhöhten „Wohlfühlen“ führen kann, muss erarbeitet werden. Durch Mut, das Ansprechen von Problemen, die eigene Öffnung und das Aushalten von Unsicherheit im ersten Schritt.

Ohne die Auseinandersetzung im Team mit Konflikten und der erzeugten Reibung wird keine echte Sicherheit entstehen, da immer der „Funke an Unsicherheit“ zurückbleibt, ob das Ganze ein „soziales Theater“ war oder die Leute es ernst meinen (was ist der shared belief?). Es ist also ein Pfad des Mutes und der Öffnung, was uns Menschen bekanntlich nicht immer leicht fällt. 

Ok, das habe ich verstanden, aber soll ich jetzt alle meine Gefühle und Gedanken im Team teilen? Ich bin immerhin auf der Arbeit, das sind nicht meine Freunde.“

Vollkommen korrekt. Und Nein, es geht nicht darum, alles zu offenbaren, sondern um die Dinge, die einen Bezug zum Team und der Team-Performance haben.

Ein Beispiel: Nehmen wir an, es gibt in der Familie einen Trauerfall, der dazu führt, dass die eigene Leistung sinkt und man für eine gewisse Zeit nicht so belastbar ist. Dann ist das Team-relevant. Man muss hierzu nicht alles erzählen, aber auf die Belastungsfaktoren sollte man offen hinweisen, da nur so die Arbeit umverteilt werden kann, um im Performance-Bereich zu bleiben. 

Bin ich hingegen einfach nur schlecht gelaunt und genervt von vielen privaten Dingen, die aber nicht merklich meine Leistung reduzieren, muss ich vielleicht nicht jedem im Team meine private Lage schonungslos offenlegen und sie zu „Freunden“ machen. Teams sind keine emotionalen Mülleimer, es bedarf hier einer situativen Abwägung des wann und wie. Im Zweifel kann eine vertraute Person helfen zu entscheiden, ob man die Angelegenheit ins Team trägt oder nicht.

Ihr seht, es ist nicht so einfach. Wir sind hier in einer Grauzone zwischen alles erzählen und nichts erzählen, die am Ende bedeutet: Das „Relevante“ sollte geteilt werden!

Anwendung und Umsetzung

Der komplette Anwendungs- und Umsetzungspfad würde diesen Advents-Blog-Post sprengen, dennoch möchte ich euch ein paar Dinge mitgeben.

Psychologische Sicherheit zu etablieren setzt auf drei Ebenen an:

  1. Organisation
  2. Team
  3. Individuum

Hier findet ihr mein ausführliches Webinar, in dem ich auf diese drei Ebenen und das „How-to“ eingehe.

Achtung, YouTube!

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Für Scrum Master / Agile Coaches möchte ich aber gleich ein paar Tipps aus dem Punkt „Team“ mitgeben:

  1. Macht euch bewusst, dass es das Konzept der psychologischen Sicherheit gibt und macht euch inhaltlich damit vertraut. Nutzt dieses Wissen in eurer täglichen Arbeit und versucht, zusammen mit dem Team kleine aber kontinuierliche Schritte zu gehen (Buchtipp: Amy Edmondson: The fearless organization).
  2. Habt Geduld und betrachtet es als Entwicklungsmöglichkeit des Teams über Monate und Jahre hinweg, nicht über Wochen.
  3. Startet mit dem IST-Zustand: Verwendet hierzu den Fragebogen von Amy Edmondson und erhebt erst einmal anonym Daten.
  4. Bietet jedem Teammitglied ein individuelles Gespräch an, in dem ihr dieses Thema und die Fragen noch einmal durchgeht (ist das nicht gewünscht, ist dies auch ein erster Indikator, dass etwas „schief“ läuft) und stelle dabei folgende Fragen:
    1. Hindert dich aktuell etwas daran, deine Gedanken, Ideen, Fehler und Meinung frei gegenüber jedem im Team zu äußern?
    2. Was bräuchte es im Team, damit dich nichts mehr daran hindert?
    3. Wie kann ich und das Team dich bei diesem Weg unterstützen?
  5. Macht eine Team-Retro zu diesem Thema, in der ihr die Ergebnisse besprecht und den IST-Stand transparent macht. Hier müssen – im Gegensatz zum eigentlichen Retro-Vorgehen – noch keine konkreten Ideen gefunden werden, wie es besser werden kann. Wichtig ist es, eine Basislinie zu schaffen, alle ins Boot zu holen und einen Austausch zu ermöglichen.
  6. Fasst alle Ergebnisse aus der Umfrage, den Einzelgesprächen und der Team-Retro zusammen und nehmt am besten einen erfahrenen Kollegen mit dazu, mit dem ihr darüber reflektieren könnt.
  7. Bringt das Ganze wieder mit ins Team und erarbeitet nun ein oder zwei kleine Ideen, die ihr im Experiment ausprobieren könnt.
  8. Dieser Prozess muss nun immer wieder durchlaufen werden. Inspect & Adapt.

Ich hoffe, ich konnte euch das Konzept ein bisschen näher bringen und ihr findet hier Ressourcen, um starten zu können.

Was mich interessieren würde: Arbeitet ihr bereits mit dem Konzept? Falls ja, was sind eure Schwierigkeiten? Und schließlich: was funktioniert richtig gut?

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