Der Pygmalion-Effekt in agilen Arbeitsumgebungen

Der Pygmalion-Effekt in agilen Arbeitsumgebungen

Avatar von Ben Kölbl

Der Pygmalion- oder Rosenthal-Effekt ist nach dem gleichnamigen Rosenthal-Experiment benannt, das der Psychologen Robert Rosenthal durchgeführt hat. Vereinfacht dargestellt besagt der Rosenthal-Effekt das Phänomen, dass höhere Erwartungen zu höheren Leistungen führen.

Ich werde an dieser Stelle aber bewusst das weniger bekannte Vorläufer-Experiment „Mäuse im Labyrinth“ von Rosenthal und Fode umreißen, da es schlicht einfacher zu erklären ist. Und dann werde ich aufzeigen, welche Auswirkungen dieser Effekt in der klassischen Arbeitswelt hat.

Das Experiment

In diesem Experiment wurde an einer Schule folgender Versuchsaufbau durchgeführt: Es gab zwei getrennte Schülerteams, deren Aufgabe darin bestand, eine Gruppe von Mäusen durch ein Labyrinth zu führen, Dem ersten Schülerteam hat man gesagt, ihre Mäuse seien besonders intelligent, während man dem zweiten Schülerteam gesagt hat, ihre Mäuse seien besonders dumm.

Die Mäuse wussten natürlich nichts von ihrem „IQ“, denn sie waren alle gleich „begabt“. Alleine die Aussage, es handele sich bei den Mäusen um besonders intelligente bzw. dumme Tiere, hat die Erwartung des jeweiligen Schülerteams jedoch verändert.

Wie das Experiment ausging (für, die, die es noch nicht wissen) erfahrt ihr etwas später.

Wie wirkt sich der Pygmalion-Effekt in der klassischen Arbeitswelt aus?

Was haben Mäuse nun mit unserer Arbeit zu tun?

Was im obigen Beispiel an Mäusen verdeutlicht wird, begegnet uns täglich in der Arbeitswelt beim Umgang mit Arbeits- oder Teamkollegen. Denn mal ehrlich: behandeln wir wirklich alle unsere Kollegen gleich? Wohl kaum. 

Das ist in den meisten Arbeitsumgebungen weder möglich (Hierarchie, Ansehen, Status, Titel, Arbeitstrennung) noch gewollt oder gewünscht. Denn wir stellen unsere Bedürfnisse („Mein Problem ist am wichtigsten und muss sofort gelöst werden, denn ich bin schließlich Head of Whatever“) gerne in den Vordergrund und adressieren es daher bewusst an die Person, von der wir erwarten, dass sie es am besten befriedigen kann. 

Das führt in der Organisation langfristig dazu, dass wenige Mitarbeiter mit den steigenden Erwartungen an sie selbst höhere Leistungen bringen müssen, wohingegen den meisten anderen die Chance auf ein Dazulernen verwehrt wird, weil ihnen nicht das gleiche Maß an Erwartung bzw. Vertrauen entgegengebracht wird.

Das Problem geht tiefer

Ich denke, ich muss nicht weiter ins Detail gehen, um darzustellen, wohin solche kurzfristigen Denkmuster führen werden. Organisationen verbauen sich so die Möglichkeit, allen ihren Mitarbeitern die gleiche Chance zu geben, kontinuierlich und kollaborativ dazuzulernen (inspect & adapt). Und damit auch die Grundvoraussetzung, am Markt zu bestehen.

So gibt es neben dem Pygmalion-Effekt noch eine ganze Reihe vergleichbarer Effekte wie den Andorra-Effekt, Galatea-Effekt oder den Golem-Effekt, die alle zu den selbst erfüllenden Prophezeiungen gehören. Diese Effekte haben gemein, dass durch sie ein Arbeitsumfeld entsteht, in dem ungleiche Voraussetzungen für Mitarbeiter herrschen, die sich langfristig negativ auf die Stimmung, Kreativität, Lernbereitschaft, auf das Know-how und die Innovationsfähigkeit auswirken werden. Was in einer (agilen) Arbeitsumgebung nicht sehr zuträglich ist. Aber dazu gleich mehr.

Wie sich der Pygmalion-Effekt in agilen Arbeitsumgebungen auswirkt

Der Pygmalion-Effekt, der im Beispiel aus dem vorherigen Absatz negative Auswirkungen hat, kann in einer agilen Arbeitsumgebung aber auch durchaus positive Auswirkungen mit sich bringen.

Stellt euch eine Arbeitsumgebung vor, in der nicht von außen bestimmt wird, wer mit welchen Erwartungen Probleme lösen muss, sondern das Entscheidungen einzig und allein denjenigen zustehen, die es am besten wissen: den Teams selbst.

Vertraut man auf selbst organisierte Teams und darauf, dass jeder im Team stets versucht, sein Bestes zu geben und dazuzulernen, kann man ja ruhig mal die negativen Erwartungen beiseite schieben und sich positiv überraschen lassen. Nämlich davon, wozu ein gut funktionierendes Team in der Lage sein kann. Einfach mal loslassen und auf seine Leute vertrauen.

Oder um drei der hier ganz gut passenden Prinzipien aus dem Agilen Manifest zu zitieren:

Die besten Architekturen, Anforderungen und Entwürfe entstehen durch selbstorganisierte Teams.


In regelmäßigen Abständen reflektiert das Team, wie es effektiver werden kann und passt sein Verhalten entsprechend an.

Errichte Projekte rund um motivierte Individuen. Gib ihnen das Umfeld und die Unterstützung, die sie benötigen und vertraue darauf, dass sie die Aufgabe erledigen.

Was können wir daraus für unsere Teamarbeit lernen?

Vertrauen und Zuversicht – sowohl in die eigenen Fähigkeiten als auch in die Teamfähigkeit – zahlen sich langfristig aus. Es braucht dazu aber ein geeignetes Arbeitsumfeld mit entsprechenden Prinzipien und Werten, die echtes kollaboratives Arbeiten im Team ermöglichen.

Auf der anderen Seite aber natürlich auch ein Team, das eine gewisse Reife in der Beziehung hat. Ein Team, das bereit ist, diese Eigenverantwortung zu akzeptieren und anzunehmen. Das darf an dieser Stelle nicht außer Acht gelassen werden! Denn diese Reife von Teams entsteht nicht über Nacht, sondern muss oft erst erlernt und gezielt gefördert werden.

Verweigert euch im Team daher nicht dem Lernen. Wenn die harten Nüsse im Team immer von den gleichen „Überfliegern“ gelöst werden, bleibt der Rest des Teams auf der Strecke. Regelmäßige Pair-, Group- oder Mob-Programming-Sessions helfen z. B. dabei, das vorhandene Wissen im Team zu verteilen.

Lasst euch nicht vor den Karren spannen und geht Probleme gemeinsam an. Die Verantwortung liegt beim ganzen Team und nicht bei einzelnen Heroes.

Fazit

Eine Arbeitsbedingung zu schaffen, in der die Mitarbeiter unabhängig von der Erwartungshaltung die gleichen Chancen haben, ist sicher nicht einfach. Die Ergebnisse, die in einer solchen Arbeitsbedingung entstehen, werden aber langfristig besser sein – von der Motivation und dem Know-how der Mitarbeiter ganz zu schweigen. Und da wäre ja noch die Sache mit der Innovationsfähigkeit, um wettbewerbsfähig zu bleiben (Stichwort Continuous Learning), stimmts? Und welche Teams werden am Ende innovativer sein? Die, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen und Experimente einzugehen – oder die, die darauf warten, dass man mit einer bestimmten Aufgabe und Erwartungshaltung an sie herantritt?

Last but not least: Auch die selbst erfüllende Prophezeiung aus dem Experiment vom Beginn des Blogposts hat sich bestätigt. Die Mäuse der Schülergruppe, denen man sagte, es handle sich um besonders intelligente Mäuse, haben das Labyrinth in kürzerer Zeit durchlaufen.

Wie wäre das Experiment wohl ausgegangen, hätten man beiden Schülerteams gesagt, sie hätten besonders intelligente Mäuse?

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