Wir kommen aus der PHP-Community und sind inzwischen in der agilen Community und der JavaScript-Community angekommen. Deshalb bekommen wir es mit, wenn gute Leute nach einer neuen Herausforderung, sprich: nach einem Arbeitgeber, der besser in ihr Leben passt als der bisherige, schauen.
Die Nachricht finden wir erst mal immer super, weil wir die Leute kennen und wissen was sie können. Bei den meisten könnte ich aus dem Stand eine halbstündige Eloge über ihre Fähigkeiten und Talente halten.
Und dann kommt die Irritation. Denn sie wollen Teamleiter, C*O, irgendwas mit Personalverantwortung, Head of *, * Lead oder Senior Architect werden. Auf gar keinen Fall einfach nur Developer. Nein, ein Titel muss her, man will ja die eigene Leistungsfähigkeit in der Karriere abgebildet sehen.
Tja, und damit können wir – und viel wichtiger wollen wir – gar nicht dienen. Weder die HR-Abteilung noch die Geschäftsführung kann Leute auf Positionen einstellen oder einen Titel vergeben.
Denn die existieren bei uns nicht mehr.
„Matrix“-Organisation
Warum machen wir „agil“? Weil unsere Arbeit weniger planbar und verlässlich geworden ist, und wir uns jeweils den aktuellen Anforderungen und Erkenntnissen anpassen müssen.
Scrum macht jeden Sprint eine Retrospektive, um die Prozesse und Organisationsform kontinuierlich zu adaptieren. Kanban schleppt ein ganzes Sammelsurium von Messinstrumenten mit, um überhaupt feststellen zu können, wie es im Projekt aussieht und was gerade gebraucht wird. Agil fordert cross-funktionale Teams, bei DevOps wird die Brücke in den Betrieb geschlagen. Das Team ist eigenverantwortlich. Es trägt die Verantwortung selbst. Nicht der Projektleiter, nicht der Teamleiter, nicht der Senior Architect und nicht der Technical Lead.
Und wenn alles angepasst werden kann, und alle Entscheidungen vom Team ausgehen, bilden Positionen und Titel da eine Ausnahme?
Alles darf angepasst werden, nur die Titel und Positionen nicht? Das Team darf entscheiden und ist verantwortlich, ausser da ist ein Technical Lead, ein Architect oder ein Team Lead?
In der Praxis kippen solche Environments dann in die Matrix, die formelle und die reale Welt laufen auseinander.
Ich nehme die blaue Pille – und lebe in der Matrix weiter
Wir haben formelle Positionen. Ich habe die Verantwortung, die sich aus meiner Position ergibt, und meine Stellung ist über sie definiert. Die Positionen und Titel der Kollegen verhalten sich zu meiner. Wenn jemand Junior ist, und ich der Senior, dann hat mein Wort ganz offensichtlich mehr Gewicht. Und natürlich trägt der Teamleiter die Verantwortung. Er ist weisungsbefugt gegenüber den Kollegen und leitet das Team an. Wenn das Projekt scheitert war er schuld, ausser das Team ist seinen Anweisungen nicht gefolgt.
In der Matrix kann ich Karriere machen. Ich kreide den Projekterfolg meiner individuellen, und nicht der Teamleistung an. Ich melde bei meinem formellen Vorgesetzten, dass ich mit diesem Erfolg jetzt mal mehr Position oder Gehalt bekommen soll. Oder, wenn kein Projekterfolg auf meine Kappe geht – dann melde ich mich bei meinem Vorgesetzten, er solle sich mal endlich um meine Weiterentwicklung kümmern.
Und der macht dann einen Plan mit Fortbildung, alles abgestimmt auf meine Wünsche und Fähigkeiten, und nach X Zeit wächst Titel, Position und hoffentlich auch Einkommen um eins. Und ich bekomme einen Posten mit meinem neuen Level im Team, und die haben sich danach zu richten.
Die meisten Unternehmen die ich kenne funktionieren so, auch wenn sie Scrum oder Kanban machen. Und stehen dabei im harten Widerspruch zu den Grundfesten agiler Arbeit.
Und was passiert dementsprechend im Hintergrund, wenn die Kollegen trotz dieser Strukturen zurechtkommen müssen?
Man arrangiert sich, findet Kompromisse und toleriert die Differenz der realen zur formellen Welt. Jeder von uns kennt Juniors, die dem Senior Dinge erklären, Architekten, bei denen man dankbar ist, dass die Developer etwas anderes implementierten als sie planten, und Teamleiter, die sich Aufgaben ausserhalb des Teams suchen, um dessen agile Arbeit nicht zu stören.
Ich nehme die rote Pille – und erkenne die Matrix
Das Team findet in den Sprints heraus, welche Aufgaben wir haben und wer es machen sollte. Wir wollen dabei alles machen, was das Projekt braucht, und eignen uns die nötigen Kompetenzen bei Bedarf an.
Es ergeben sich Rollen, die sich bei bestimmten Personen zuhause fühlen und gut funktionieren: Kollege A hat ein gutes Gefühl für die Welt der Anwender, und die Ansprechpartner vertrauen ihm zu 100%. Deshalb entscheidet das Team dass er die PO-Rolle ausfüllen soll, weil das den maximalen Benefit für alle bringt. Kollege B trägt schon immer seine soziale Ader mit sich herum, ist aufgeräumt und organisiert, und ein aktives Mitglied in der agilen COP der Firma und oft auf agilen Konferenzen: er nimmt die Rolle des Scrum-Masters ein.
Die DevOps-Themen fallen meist sowieso zur Kollegin mit der Admin-Vergangenheit, die auch schon bei Ubuntu comittete.
Und natürlich wechseln die Rollen. Wenn die PO-Arbeit überhand nimmt unterstützt ein Kollege und übernimmt einen Teil der Aufgaben. Eine andere Kollegen möchte ebenfalls Scrum-Master-Fähigkeiten erwerben. Also arbeitet sie in Ihrer Slacktime gezielt daran. Und nach einer Weile bringt sie das in der Retrospektive auf, und das Team entscheidet dass sie für den nächsten Monat zunächst den bestehenden Scrum-Master unterstützen soll, in den folgenden Sprints dann die Rolle mal zur Probe ganz übernehmen soll.
In der Zwischenzeit wird kein DevOps-Knowhow mehr gebraucht, also landen vermehrt Datenbankthemen bei der Kollegin mit Admin-Vergangenheit.
Diese Welt ist keinesfalls unreguliert. Sie hat klare, einfache Regeln, die nur das dokumentieren sollen was die Wirklichkeit vorlebt.
- es gibt keine Positionen mehr, nur noch Talente und temporäre Rollen
- die Rollen bestimmt das Team gemeinsam, und sie ergeben sich aus den realen Anforderungen und den Talenten
- die Zuordnung eines Kollegen zu einer Rolle ist Sache des Teams – sie treffen im Kontext die optimale Zuordnung
- die Weiterentwicklung ist ein Abfallprodukt aus diesen Erfahrungen und Engagement im Unternehmenskontext (Slacktime und Konferenzen)
- Macht und Verantwortung liegt beim Team, nicht beim Titel oder bei der Position
- das Team kann Macht und Verantwortung temporär delegieren
Das ist, im Gegensatz zur Welt in der Matrix, völlig synchron und kompatibel zu agilen Methoden.
Und wie mache ich jetzt Karriere?
Das liegt nicht mehr bei Dir und Deinem Vorgesetzten, sondern bei Deinem Team und Deinen Peers, denn die sehen jeden Tag Deine Arbeit und sind kompetent, wenn es um Deine Fähigkeiten geht. Wenn die Leute, die auf Deine Arbeitskraft und Unterstützung angewiesen sind sagen „Diese Aufgabe solltest genau Du machen„, dann kannst Du davon ausgehen, dass sie an Deine Kompetenz glauben.
Wenn der aktuelle Scrum-Master und das Team in Deine Erfahrung als Scrum-Master investieren, dann glauben Sie, dass sich dieses Investment in rentieren wird. Und dann habe ich nicht nur die Fähigkeit, die meinen Interessen und einem echten Bedarf entspricht, ich habe sie auch gleich real ausprobiert. Ich finde heraus ob ich es nicht nur will, sondern auch kann.
Und was noch viel wichtiger sind: ich habe Leute, die tatsächlich wollen, dass ich das mache. Wenn ich eine Referenz oder ein Statement zu meiner Fähigkeit haben möchte muss ich die einfach nur fragen. Sie werden mich unterstützen, denn sie haben auch schon dafür abgestimmt, dass ich diese Rolle einnehmen soll.
Und damit habe ich eine neue Form von Karriere: die Position wird ersetzt durch echte Fähigkeiten, an die nicht nur ich und mein Vorgesetzter, sondern alle Kollegen glauben. Damit habe ich wieder eine Position und Verantwortung, denn das Team delegiert sie mit der Rolle temporär an mich. Weil sie es für in der Situation und fachlich für optimal halten, wenn ich das mache. Nicht, weil die formelle Position und Macht es erzwingt.
Und damit habe ich wieder eine Karriere, die im Einklang mit der täglichen Arbeit lebt, und nicht nur – wie bei der blauen Pille – in der formellen Hierarchiewelt stattfindet.
Aber auf meiner Visitenkarte ist Platz für einen Titel!
Hervorragend! Und wir können uns jetzt sogar aussuchen, was wir damit machen wollen. Für Position & Macht brauchen wir ihn nicht mehr, denn die Macht liegt in der agilen Welt bei den Stakeholdern und dem Team. Für die Karrierestufe brauchen wir ihn auch nicht mehr, denn da gibt es viel mehr und echteres Feedback von den Kollegen.
Also kann ich den Platz dazu nutzen, meinen Gesprächspartner mitzuteilen woran sie bei mir wirklich sind.
Der eine ist der Chief Puppeteer, weil das den Kern seiner Rollen am besten trifft. Mein Titel ist Chief Tailwind Officer, weil ich meine Rolle als Verpflichtung zum Rückenwind für Kollegen & Kunden sehe.
Und auf einmal gibt es Titel, die passend und glaubwürdig sind und neugierig machen. Und dann gibt es Werkzeugschmiede, die den Entwicklern ein besseres Handwerk erlauben wollen, Unruhestifter, Feelgoodmanager, DevOps Ninjas und Moneypennys.
Und warum sollte jemand dann bei Euch anfangen?
Offensichtlich nicht, um eine formelle Karriere zu machen. Aber vielleicht möchte man aus seiner eigenen Matrix heraus und genau das machen, von dem die Kollegen denken, dass man es machen sollte.
Oder man legt Wert auf ernstgemeinte Teamarbeit.
Es arbeiten bei uns viele gute & schlaue Leute in guten & schlauen Teams. Die vielen Konferenzvorträge, Bücher und Zeitungsartikel sind ein Nebenprodukt dieser Zusammenarbeit guter Leute.
Nicht weil es Principal Architects, Rockstars oder Project Heros gibt. Sondern gute Kooperation von Talenten.
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