Effektive Priorisierung: Kanban-Serviceklassen und FIFO im Einsatz

Effektive Priorisierung: Kanban-Serviceklassen und FIFO im Einsatz

Avatar von Tim Schneider

Als Product Owner steht man vor einer Reihe von Herausforderungen, insbesondere wenn es um die Priorisierung von Anforderungen geht. Eine der größten Herausforderungen besteht darin, eine ausgewogene Balance zwischen den Bedürfnissen der Kunden, den Geschäftszielen und den technischen Anforderungen zu finden. Und all das vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen.

Jeder Stakeholder hat seine eigenen Prioritäten und es kann schwierig sein, die richtige Reihenfolge festzulegen, die den größten Nutzen und den höchsten Return on Investment (ROI) bietet. Zusätzlich kann sich die Prioritätensetzung im Laufe der Zeit ändern, wenn sich Marktbedingungen oder Unternehmensstrategie wandeln.

Daher ist es wichtig, als Product Owner flexibel zu sein, stetig zu kommunizieren und die Prioritäten regelmäßig zu überprüfen, um sicherzustellen, dass das Team an den richtigen Aufgaben arbeitet und das Produkt kontinuierlich verbessert wird.

Entscheidend ist dabei, klare Kriterien für die Priorisierung zu haben und eine sorgfältige Abwägung zwischen dem Wert der Funktionen und den verfügbaren Ressourcen vorzunehmen.

Aber was können solche klaren Kriterien zur Priorisierung sein? Der Scrum Guide bietet hier wenig bis keine Unterstützung …

Das First-In-First-Out Prinzip

Die Priorisierungsregel First-In, First-Out (FIFO) ist eine sehr einfache und effektive Methode zur Bestimmung der Reihenfolge von Aufgaben oder Anfragen. Sie ist im Zusammenhang mit dem Kanban-System erdacht worden.

Bei der Anwendung von FIFO wird jede neue Aufgabe oder Anfrage am Ende der Warteschlange platziert und die ältesten Aufgaben zuerst bearbeitet. Das bedeutet, dass diejenigen Aufgaben priorisiert werden, die zuerst eingegangen sind und somit die längste Wartezeit haben.

Das FIFO-Prinzip bietet einige Vorteile: Es gewährleistet eine ausgewogene Behandlung der Aufgaben und stellt sicher, dass keine Aufgabe in Vergessenheit gerät oder übersehen wird. Zudem sorgt sie für Transparenz, da die Priorisierung nach dem Zeitpunkt des Eingangs erfolgt. Letztlich ist sie kinderleicht anzuwenden und kostet kaum Zeit.

Es ist jedoch augenscheinlich, dass FIFO allein möglicherweise nicht ausreicht, um strategische Prioritäten oder Geschäftsanforderungen zu berücksichtigen. Als PO brauchst du also zusätzlich eine Priorisierungsmethoden mit einer höheren Komplexität, um die wichtigsten Aufgaben entsprechend ihrer Bedeutung und Dringlichkeit priorisieren zu können.

Verzögerungskosten

Bevor ich eine solche Priorisierungsmethode vorstelle, möchte ich kurz auf Verzögerungskosten eingehen, da diese in der gleich folgenden Methode die Basis bilden.

Verzögerungskosten sind die Kosten, die entstehen, wenn Projekte, Aufgaben oder Entscheidungen nicht rechtzeitig abgeschlossen bzw. getroffen werden. Diese Kosten können sich sowohl auf finanzielle Aspekte als auch auf andere Bereiche wie KundenzufriedenheitWettbewerbsfähigkeit und Image auswirken.

Verzögerungskosten können auch die Produktivität von Teams beeinträchtigen und zu Unzufriedenheit bei den Stakeholdern führen. Daher ist es für jeden PO wichtig, Verzögerungskosten zu identifizieren, zu quantifizieren und durch Priorisierung zu minimieren. Aber gibt es eine Methode, die das tut?

Die Kanban-Serviceklassen

Die Kanban-Serviceklassen sind aus meiner Erfahrung heraus ein gutes Beispiel für eine im Vergleich zu FIFO zwar komplexere aber immer noch einfache Methode zur Priorisierung von Aufgaben. Zusätzlich bieten sie dem PO auch noch die Möglichkeit zur Reduzierung von Risiken.

Erdacht wurde sie ursprünglich zur Kategorisierung und Priorisierung von Aufgaben in Kanban, was aber nicht heißt, dass sie nicht auch sehr gut in einem Scrum-Umfeld und damit von POs verwendet werden können.

Kanban-Serviceklassen

Die Kanban-Serviceklassen bestehen aus vier definierten Klassen, die klar beschreiben, wann welche Aufgaben bearbeitet werden sollten. Sie ermöglichen, unterschiedliche Dringlichkeit und Wert der vorhandenen Aufgaben und Anfragen zu verstehen und dann angemessen mit einer Priorisierung darauf reagieren zu können. Grundlage dafür stellt die Entstehung von Verzögerungskosten (Cost of Delay) im Zeitverlauf dar.

Bedeutung der Serviceklasse „Expedite“

Die erste und wichtigste Kanban-Serviceklasse heißt Expedite und ist für Aufgaben mit höchster Dringlichkeit und sehr hohen Verzögerungskosten vorgesehen. Sie dient dazu, sofortige Aufmerksamkeit und schnelle Bearbeitung sicherzustellen. Expedite-Aufgaben haben Vorrang vor allen anderen Aufgaben und werden ohne Verzögerung angegangen. Dabei wird im Kanban-System bspw. keinerlei Rücksicht auf bestehende WiP-Limits genommen!

Kanban-Serviceklasse Expedite

Diese Serviceklasse wird normalerweise für kritische Situationen verwendet, bei denen schnelle Entscheidungen oder Handlungen erforderlich sind. Sie dient dazu:

  • mögliche Probleme unverzüglich zu lösen
  • die Kundenzufriedenheit zu gewährleisten bzw. schnellstmöglich wieder herzustellen
  • den unmittelbar eintretenden, hohen wirtschaftlichen Schaden bestmöglich zu minimieren

Durch die Zuweisung der Expedite-Klasse zu einer Aufgabe kann also sichergestellt werden, dass dringende Anforderungen die höchstmögliche Priorität erhalten und somit schnellstmöglich und effizient erledigt werden.

Bedeutung der Serviceklasse „Fixed Date“

Die zweite und ebenfalls wichtige Kanban-Serviceklasse heißt Fixed Date und ist für Aufgaben mit einem festen Lieferdatum und die nach diesem Datum sofort entstehenden, hohen Verzögerungskosten vorgesehen.

Diese Aufgaben haben also einen vordefinierten Termin oder eine Deadline, wie es im Manager-Deutsch immer so schön heißt. Das Team legt diese Fristen gemeinsam mit dem Kunden oder den beteiligten Stakeholdern fest.

Aufgaben in der Serviceklasse Fixed Date erhalten eine besondere Priorität, um sicherzustellen, dass sie rechtzeitig abgeschlossen werden können. In diesem Zusammenhang muss das Team sicherstellen, dass genügend Ressourcen und Aufmerksamkeit auf diese Aufgaben gerichtet werden, um die Einhaltung der Frist zu gewährleisten.

Kanban-Serviceklasse Fixed Date

Die Verwendung dieser Klasse ermöglicht es einem PO und seinem Team effektiv mit zeitkritischen Anforderungen umgehen zu können. Gleichzeitig wird sichergestellt, dass wichtige Meilensteine oder Verpflichtungen pünktlich erreicht werden.

Bedeutung der Serviceklasse „Standard“

Die Kanban-Serviceklasse Standard ist, wie der Name schon verrät, die gängigste und am häufigsten zugewiesene Klasse. Sie umfasst die meisten regulären Aufgaben und Anfragen, die geringe bis moderate Verzögerungskosten nach sich ziehen.

Kanban-Serviceklasse Standard

Die dieser Klasse zugeordneten Aufgaben tolerieren also längere Lead Times und werden durch eine gleichmäßige Verteilung der Arbeitslast sowie eine effiziente Bearbeitung umgesetzt.

Indem das Team die Standardklasse verwendet, können sie einen ausgewogenen und stabilen Workflow aufrechterhalten und sicherstellen, dass alle Aufgaben angemessen priorisiert und bearbeitet werden, ohne dass eine übermäßige Dringlichkeit besteht.

Bedeutung der Serviceklasse „Intangible“ 

Die Kanban-Serviceklasse Intangible bezieht sich auf Aufgaben oder Anfragen, die mal umgesetzt werden sollten (Chores) und deren Verzögerungskosten zunächst über länger Zeit gering sind, später aber recht deutlich und exponentiell ansteigen.

Es handelt sich um immaterielle oder schwer quantifizierbare Aufgaben, die dennoch einen wichtigen Wert für das Unternehmen haben können. Beispiele für Intangible-Aufgaben sind Verbesserungen der internen Prozesse, Schulungen oder Forschungsaktivitäten.

Der PO kann durch Zuweisung dieser Klasse zu Aufgaben sicherstellen, dass diese Aufgaben nicht übersehen oder vernachlässigt werden. Die Klasse Intangible ermöglicht also, den Wert und die Bedeutung dieser Aufgaben im Auge zu behalten und sicherzustellen, dass sie in den Arbeitsfluss integriert werden, um langfristige Vorteile für das Unternehmen zu erzielen.

Priorisierung in der Praxis

Nachdem nun die Kanban-Serviceklassen vorgestellt wurden, wirst du sicherlich zwei Fragen vor Augen haben: „Was, wenn ich mehrere Tickets einer Kanban-Serviceklasse habe? Und warum wurde die für die Praxis eher irrelevante Priorisierungsmethode FIFO überhaupt vorgestellt?“ 

Zur Beantwortung der ersten Frage kannst du für jede der vier Serviceklassen grundsätzlich die erwarteten Verzögerungskosten der jeweiligen Aufgaben vergleichen. Die Aufgabe, die (früher) höhere Verzögerungskosten verursacht hat höhere Priorität.

Jetzt kann man sich das Leben als PO hier aber aus meiner Sicht etwas einfacher machen. So führen die Aufgaben der Serviceklasse Fixed Date ja ein Due Date, bis zu der die Aufgabe (spätestens) umgesetzt sein soll. Warum diese Aufgaben also nicht schon mal nach dem Due Date so sortieren, dass die Aufgabe, für deren Erfüllung weniger Zeit verbleibt, eine höhere Priorität hat?

Eine weitere Vereinfachung kannst du aus meiner Sicht auch in der am häufigsten verwendeten Serviceklasse Standard nutzen und diese schlicht nach der bereits vorgestellten Priorisierungsmethode FIFO sortieren. Damit ersparst du dir weitestgehend eine intensive Auseinandersetzung mit den detaillierten Verzögerungskosten und deine zweite Frage ist beantwortet.

Die letzte Vereinfachung besteht aus meiner Sicht bei der Serviceklasse Intangible. Hier kannst du als PO bestimmt abschätzen, zu welchem Zeitpunkt die Verzögerungskosten der einzelnen Aufgaben sprunghaft ansteigen, was dir eine erste Möglichkeit der Priorisierung liefert.

Und sollte dir das nicht möglich sein, so bleibt dir nur die detaillierte Betrachtung der Verzögerungskosten. Das Gute in diesem Zusammenhang ist aber, dass die Anzahl der verbleibenden Aufgaben in der Serviceklasse Intangible als auch die generelle Anzahl der Aufgaben in der Serviceklasse Expedite meist sehr gering ist und dir als PO die Verhältnisse der einzelnen Verzögerungskosten sicher auch schnell, wenn nicht sogar direkt bewusst sind.

Tipps für die Praxis

Wie setzt man die Kanban-Serviceklassen nun aber als PO um? Grundsätzlich sollte klar sein, dass die Serviceklassen im Backlog angewendet werden und das wann immer eine neue Aufgabe den Eingangskanal des Backlogs erreicht hat. Das Gleiche gilt aber auch für den Fall, dass sich neue Informationen zu vorhandenen Aufgaben ergeben, die zumindest mal einen Check der im Backlog ersichtlichen Prioritäten nötig macht.

Wie immer in Kanban hilft auch bei der Anwendung der Serviceklassen eine wie auch immer geartete Visualisierung ungemein. So habe ich mir die vier Diagramme der einzelnen Serviceklassen in der hier vorgestellten Reihenfolge ausgedruckt und seitlich an den Monitor geklebt, um diese jederzeit im Blick zu haben.

Eine weitere Visualisierung hängt stark von der für Backlog und Sprint-Backlog genutzten Software ab. Ich würde auf jeden Fall dafür sorgen, dass die Serviceklassen auch an den Tickets selbst sichtbar sind. So könnte man in Jira bspw. die Prioritäten so konfigurieren, dass sie die Namen der Serviceklassen tragen.

Sollte das nicht gewollt sein, so könnte man die Serviceklassen in Jira auch über die Labels abbilden und so sowohl im Backlog als auch im Sprint-Backlog sichtbar machen.

Gut bewährt hat sich meiner Erfahrung nach auch, eine Swimlane im Sprint-Backlog für die Serviceklasse Expedite zu konfigurieren und diese immer dann als oberste Swimlane erscheinen zu lassen, wenn mindestens ein entsprechendes Ticket vorhanden ist.

Erlebt habe ich auch schon, dass in Jira die Ticketfarbe entsprechend angepasst wird. Bspw. Rot für Expedite, Gelb für Fixed Date, Weiß für Standard und Grau für Intangible.

Und last but not least können im Team natürlich auch weitere Serviceklassen definiert und entsprechend sichtbar gemacht werden. Ein immer wieder dafür genanntes Beispiel wären Bugs, die nicht die Kriterien für Expedite erfüllen.


Wie können wir Dir helfen?

Fazit

Ein guter Product Owner und sein Team müssen in der Lage sein, eine Priorisierung effizient durchzuführen, sowie die Prioritäten jederzeit begründen und transparent kommunizieren zu können.

Es ist eine Herausforderung, sowohl die Interessen der Kunden als auch des Unternehmens zu berücksichtigen und gleichzeitig sicherzustellen, dass das Team motiviert und effektiv an der Verwirklichung der Produktvision arbeitet. Eine effektive Priorisierung ist daher von entscheidender Bedeutung, um die Produktentwicklung auf Kurs zu halten und den Erfolg des Produkts langfristig zu sichern.

Die Kanban-Serviceklassen sind mit ein bisschen Übung und unter Verwendung der genannten Tipps einfach anzuwenden, ermöglichen eine transparente Kommunikation sowohl mit internen als auch externen Kunden und schaffen eine Grundlage für effiziente Priorisierungsentscheidungen.

Und ganz nebenbei können Teams mit den Kanban-Serviceklassen auch noch die Durchlaufzeiten ihrer Aufgaben optimieren, den Kundenservice verbessern und sicherstellen, dass alle Aufgaben gemäß ihrer Dringlichkeit und ihrem Wert behandelt werden.

Kurzum eine empfehlenswerte Priorisierungsmethode für jeden PO und sein Team. Und solltest du für die Etablierung dieser Methode Unterstützung wollen, stehen wir dir von MAYFLOWER natürlich auch gerne zur Seite.

Avatar von Tim Schneider

Kommentare

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert


Für das Handling unseres Newsletters nutzen wir den Dienst HubSpot. Mehr Informationen, insbesondere auch zu Deinem Widerrufsrecht, kannst Du jederzeit unserer Datenschutzerklärung entnehmen.