Agile Vorgehensweisen effektiv aushebeln

Wie man agile Vorgehensweisen effektiv aushebeln kann

Avatar von Daniel Prokscha

Agile Vorgehensweisen sind schnell erklärt. Sie zu meistern, aber schwierig. Insbesondere dann, wenn man aus seinem Trott heraus gar nicht wahrnimmt, dass man an ihnen vorbeiarbeitet. Als Agile Coach betreute ich für einen unserer Kunden mehrere Scrum-Teams über viele Monate und habe genau dieses Vorbeiarbeiten beobachtet.

Besonders perfide: Mir ist es erst wirklich bewusst geworden, als ich schon selbst vom Trott geschluckt wurde und in die Falle getappt war.

„Das Tagesgeschäft bremst uns.“

Schon in den Vorgesprächen wurde ich gewarnt, dass die Teams durch Tagesgeschäft gebremst werden und man fieberhaft nach Strategien sucht, es irgendwie in den Griff zu bekommen.

Da war es wieder, das ominöse Tagesgeschäft … viele unserer Kunden klagen darüber. Doch was ist das eigentlich? Kaffee holen, E-Mails lesen, Telefonieren?

Nein. Beim Tagesgeschäft wird der Betrieb sichergestellt. Maintenance. Im IT-Umfeld ist das quasi die Pflege der Hard- und Software. Und das Tagesgeschäft ist fies. Es ist oft nicht sicht- und spürbar. Erst recht nicht, solange alles läuft. Ein Team steigert dabei nicht den Mehrwert, es hält ihn quasi auf dem bereits erreichten Level. Eigentlich ist das immens viel wert, wird leider viel zu wenig wertgeschätzt.

Damit nicht genug. Zu allem Überfluss ist das Tagesgeschäft überhaupt nicht planbar. Fehler kündigen sich nicht an, kleinere Anpassungen nur mit wenig Vorlauf. Das Tagesgeschäft ist dem Scrum-Prozess sein Tod, sozusagen. Denn er lebt von planbarer Arbeit. Alles, was quer schießt, bremst ihn aus und bringt ihn sogar zum erliegen.

Lösungsstrategien

Ich habe mich mit einigen Kollegen über die Problematik ausgetauscht und die Quintessenz unserer Gespräche war eine Mischung aus „Wechsel von Scrum auf Kanban“, „Ziehe die ungefähr benötigte Zeit des Tagesgeschäft von den Sprints ab (um eine stabile Velocity zu erreichen)“ und „Stellt ein Kanban-Team auf, dass sich ausschließlich um das Tagesgeschäft kümmert“.

Keine Frage, das sind gute Strategien, die man verfolgen kann. Allerdings habe ich dann wieder zurück beim Kunden festgestellt, dass keine dieser Strategien langfristig funktionieren kann. Jede agile Vorgehensweise ist zum Scheitern verurteilt. Doch warum?

Formelle aber ineffektive Prozesse werden durch informelle aber effektive Prozesse umgangen.

Zu Beginn meines Coachings wurde ich an die Hand genommen und durch die Firma geführt. Über 100 Mitarbeiter, mehrere Scrum-Teams, verschiedene Abteilungen, … das ganz normale Einführungsprogramm. Außerdem wurde mir gezeigt, an wen ich mich bei bestimmten Problemen wenden kann. Das ist die Frau für die Schlüsselkarten, dies der Mann für Rechnerprobleme aller Art und das Team dort hinten ist zuständig für die intern genutzte Software wie Wiki, JIRA und ähnliches. Coole Sache! Dadurch lernt man die Leute unglaublich schnell kennen und hat immer einen passenden Ansprechpartner parat.

Bei der Arbeit mit den Teams sind immer mal wieder kleinere und größere Probleme aufgetaucht. Kein Problem. Ich wusste fast immer, wer mir weiter helfen konnte. Also hin zu demjenigen und das Problem war meistens innerhalb weniger Minuten gelöst. Manchmal hat es etwas länger gedauert, aber so ist das halt. Kennen wir alle.

Agile Vorgehensweisen effektiv aushebeln

Eines der Teams, die ich betreute, kümmerte sich um die Pflege und den Ausbau der gesamten IT-Infrastruktur. Damit war es der Ansprechpartner für alle anderen Teams, die sich Änderungen an der IT-Infrastruktur wünschten. Irgendwann poppte in diesem Team eine Rückfrage auf, die ich als Agile Coach zu einem Kollegen in einem anderen Team tragen sollte.

Während unserer Unterhaltung fragte er mich, was eigentlich aus seiner Anfrage bei meinem Team geworden ist, die er schon rund zwei Wochen vorher im internen Ticketsystem gestellt hatte. Das war der offizielle Weg, um Anfragen zu stellen und der Garant, dass die Anfrage vom Product Owner des jeweiligen Teams in einem der kommenden Sprints eingeplant wird. Je nach Wichtigkeit entsprechend priorisiert. Ist in diesem Fall offensichtlich nicht passiert. Doof, kommt vor. Zugegebenermaßen vielleicht sogar etwas öfter. Ehrlich sogar sehr oft.

Man könnte jetzt annehmen, dass der Kunde aufgrund dieser Tatsache völlig unbeweglich war und jeder Sprint in einer einzigen Katastrophe endet. Das war allerdings nicht der Fall.

Der kleine Dienstweg

Im weiteren Gesprächsverlauf stellten wir fest, dass neben der agilen Vorgehensweise und deren Prozessen noch ein weiterer unsichtbarer Prozess existiert. Wahrscheinlich stammt er noch aus den Zeiten, bevor der Kunde den agilen Weg eingeschlagen hatte und hat überlebt, weil er so einfach ist und so unfassbar effektiv funktioniert. Dadurch ist er ist tief im Kollektiv verankert und wird entsprechend gelebt. Sogar von mir!

Ich taufte ihn Den kleinen Dienstweg: Für jedes Problem gibt es den passenden Ansprechpartner und ich trommle so lange auf dessen Schreibtisch herum, bis mein Problem gelöst wird. Irgendwann stellte ich die These auf, dass sicherlich die Hälfte aller anfallenden Arbeiten – unter anderem auch das Tagesgeschäft – völlig unsichtbar über den kleinen Dienstweg organisiert sind. Das erklärt auch, warum der Kunde nicht völlig unbeweglich war. Durch den kleinen Dienstweg war der Kunde sogar ziemlich flexibel.

Es versteht sich jedoch von selbst, dass durch die Nutzung des kleinen Dienstweg der offizielle Scrum-Prozess sowie jeder andere agile Prozess völlig ausgehebelt wird. Die ursprünglich geplante Arbeit bleibt einfach liegen, weil jeder mit den Anfragen über den kleinen Dienstweg beschäftigt ist. Doch wie kann man sowas in den Griff bekommen?

Was wirklich hilft

Transparenz! Bevor ich mir darüber Gedanken mache, mit welcher agilen Vorgehensweise ich meine Arbeit organisieren möchte, muss ich konsequent dafür sorgen, dass die Arbeit für alle sichtbar und damit planbar wird. Beispielsweise als Ticket in einem Ticketsystem oder als Taskkarte auf einem Board.

Hierzu muss nicht zwingend alles zu 100 Prozent sichtbar sein. Meine persönliche Faustformel lautet: Alles, was länger als eine Viertelstunde dauert, sollte irgendwie sichtbar gemacht werden – gerne auch im Nachgang.

Danach kann ich mir überlegen, wie ich die Arbeit organisiere und einzelne Arbeitsschritte optimiere. Habe ich viel unvorhergesehenes Tagesgeschäft, kann Kanban die Lösung sein. Arbeite ich an einem komplexen Projekt, mag Scrum der richtige Weg sein. Vielleicht ist es aber auch eine ganz andere agile Vorgehensweise, die meine Bedürfnisse abdeckt.

Am Ende steht die Disziplin

Sobald ich mich für eine Vorgehensweise entschieden habe, folgt die Disziplin. Ohne die Disziplin, bei der Vorgehensweise zu bleiben und sie kontinuierlich zu verbessern, wird sie früher oder später scheitern. Zumindest wird sie sich unrund anfühlen. Wie der eingangs erwähnte Scrum-Prozess beim Kunden. Wenn ich jedoch die Transparenz und die Disziplin sicherstellen kann, bin ich auf einem guten Weg, die agile Vorgehensweise zu meistern.

Was sind eure Erfahrungen mit vermeintlich kaputten agilen Vorgehensweisen –  habt ihr auch schon versteckte Prozesse entdeckt, die euch das Leben in agilen Projekten schwer gemacht haben? Was waren eure Lösungen?

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