Spannung, Spiel und Projekterfolg. Frischer Wind in Retrospektiven.

Retrospektiven sind für die Teamentwicklung wichtig. Mit der Reflexion von Themen aus dem Projektalltag, können Problemstellungen identifiziert und Verbesserungen erarbeitet werden. Denn wer ist schon mit augenscheinlichen Probleme zufrieden, die nicht angesprochen und angegangen werden.

Ein Scrum Master hat dafür Maßnahmen parat, die je nach Problemstellung zur Ausführung kommen. Eine übliche „klassische“ Methode gliedert sich in folgende Phasen: „Set the Stage“, „Gather Data“, „Generate Insights“, „Decide What to Do“, „Close Retrospektive“ [1]. Also strukturelle Eckpunkte, die ein Team während dem Meeting durchläuft. Vermutlich die am Projektanfang am meisten eingesetzte Methode.

Das gleiche Vorgehen für Retrospektiven wird aber auf Dauer langweilig [2]. Es zeigen sich Sättigungserscheinungen, die eher negativ als positiv wahrgenommen werden. Wenn der Ablauf bekannt und automatisch abläuft, kürzt das Team den Prozess ab. Das Meeting wird als nicht mehr brauchbar oder förderlich für das Projekt angesehen. Automatismen blockieren die Kreativität und erlauben keine „vollständige“ und kritische Bearbeitung von Problemen. Was nicht selten zu noch größeren Schwierigkeiten führt.

Damit so etwas nicht passiert, braucht es Abwechslung und frischen Wind. Mit neuen Methoden lassen sich die Neugier, Motivation und der Spassfaktor der Teilnehmer zurück erobern [3]. Im Netz finden sich dazu eine Menge an Techniken, die je nach Bedarf eingesetzt werden können. Hilfreich für mich sind immer die Erfahrungsberichte. Also für welchen Einsatz taugt die Methode? Wie gut oder schlecht funktioniert das Vorgehen? Wo gibt es besondere „Highlights“? Lässt sich damit ein gezieltes Problem angehen oder ist das Vorgehen besser geeignet, um den letzten Sprint zeitlich aufzuarbeiten. Ist die Methode schnell langweilig oder mit leichter Varianz immer wieder „frisch“. Und gibt es besondere Punkte, wie erhöhter Spassfaktor oder psychologische Funktionen, die mir als Scrum Master zusätzliche Information über das Team geben.

Eine wie ich finde ganz interessante Methode habe ich vor einiger Zeit auf einem Scrum Master Gathering kennengelernt. Selbige möchte ich Euch in diesem Artikel vorstellen.

Hintergrund

Eingebracht hat das Vorgehen eine jungen Dame im Rahmen einer Open Space Session zu Retrosopekitventechniken. Mir gefiel gleich Ihr Enthusiasmus mit dem sie über die Methode gesprochen hat: „Ja wir machen das bei uns schon länger und mein Team hat großen Spass dabei“. Sie betonte dabei immer wieder den Spielecharakter und das besondere Merkmal der Eigen- und Fremdreflexion. Leider kann ich mich nicht mehr so genau an den Namen erinnern. Ich überlasse es daher jedem selber eine eigene Bezeichnung zu finden. Den restlichen Artikel habe ich gegliedert in einen Abschnitt zum benötigte Material sowie Vorbereitung. Im anschließenden Abschnitt erzähle ich etwas über die Durchführung und gehe auf die einzelnen Phasen genauer ein. Die Vorteile und Nachteile befinden sich in einem eigenen Abschnitt. Im Fazit präsentiere ich die Erkenntnisse und Schlussfolgerungen.

Material/Vorbereitung

Damit es losgehen kann, braucht es einen Stapel grüne und rote Karten sowie schwarze Fasermaler je nach Teilnehmer (siehe Bild „Karten und Stifte“). Die Kartengröße entscheidet das Team abhängig vom benötigten Platz für Stichpunkte. Wir haben hier Moderationskarten mit einer Kantenlänge von 20cm x 10cm verwendet. Zusätzlich wird ein Tisch, ein Whiteboard mit passenden Whiteboard-Markern und Magneten sowie ein Flipchart benötigt. Die Karten positioniert man zu Beginn in der Mitte des Tisches. Daneben werden die Stifte gelegt. Das Whiteboard und Flipchart steht für alle sichtbar in der Nähe des Tisches.

Karten und Stifte
Karten und Stifte

Durchführung

Jeder der Teilnehmer nimmt sich zu Anfang einen Stift und eine grüne sowie rote Karte vom jeweiligen Stapel. Wichtig: Bitte nur eine von jeder Farbe (siehe Bild „Verteilung an die Teilnehmer“).

Verteilung an die Teilnehmer
Verteilung an die Teilnehmer

Am Anfang gehts mit den grünen Karten los. Jeder darf auf die eigene Karte seine positiven Erfahrungen aus dem Sprint festhalten. Hier gibt es keine Beschränkung zum Umfang. Jeder kann und darf so viel schreiben wie notwendig und ist nur beschränkt durch den Platz auf der Karte. Für diese Phase sollten 10min reichen. Aber auch hier kann individuell variiert werden. Nach Verstreichen der Zeit fängt ein Teilnehmer aus der Runde an seine Punkte vorzulesen. Die restlichen Teilnehmer hören brav zu und dürfen kurzes Feedback geben. Verstanden habe ich diese Phase als reine Reflexion zu positiven Punkten und Ereignissen aus dem letzten Sprint. Nachdem alle an der Reihe waren, beginnt der nächste Schritt. Hier noch eine kleine Notiz. Für eine Trennung zwischen zwei Phasen bietet sich ein „Mental Break“ an. So können Teilnehmer die Phasen besser unterscheiden und vermischen keine Informationen.

Jetzt sind die roten Karten an der Reihe. Soweit wie ich den Namen noch in Erinnerung habe, handelt es sich dabei um die „Muckerkarten“. Wie der Name schon erahnen lässt, werden jetzt die negativ dotierten Punkte aufgeschrieben. Wichtig ist dabei, dass jeder Teilnehmer nur ein Wort „aufmucken“ darf. Es beschreibt als Überbegriff eine Problemstellung die jemanden stört und für die eine Lösung gefunden werden soll. Da man nur ein einzelnes Wort notieren darf, reicht in der Regel 5min aus. Nachdem alle an der Reihe waren folgt meiner Meinung nach ein bedeutender Schritt für das weitere Vorgehen.

Jeder Teilnehmer schiebt seine eigene rote Karte seinem rechten Teilnehmer zu.

Nun fängt eine Person in der Runde an und trägt das Wort auf der Karte vor. Der eigentliche Clou besteht jetzt darin, den Inhalt in eigenen Worten wiederzugeben. Der Teilnehmer auf der linken Seite, von dem ursprünglich die Karte kam, hat jetzt die Gelegenheit die Interpretation zu bewerten. Eine Skala von 0% – 100%, gezeichnet auf das Whiteboard, hat sich dafür gut geeignet. Vergibt ein Teilnehmer 0%, so trifft die Auslegung gar nicht den Gedanken. 100% entspricht einer sehr passenden Problemdarstellung. Zum Sammeln wird die „Muckerkarte“ dann am Whiteboard an entsprechender Stelle mit einem Magnet aufgehangen. Im Anschluss wird die diskutierte Problembeschreibung noch am Flipchart als Punkt festgehalten. Die brauchen wir noch für später. Nacheinander bearbeitet das Team so alle Themen. Im anschließenden Schritt gruppieren nun alle die Punkte am Flipchart. Als Gruppenmarkierung haben wir Zahlen verwendet die jeweils die einzelnen Punkte zusammenfassen (siehe Bild „Skala mit ‚Muckerkarten‘ und Maßnahmen“ unten).

In der letzten Phase diskutiert das Team die einzelnen Punkte der Gruppen. Aus den Diskussionen entstehen Aktionen für Verbesserungen im Projekt. In ganzen Sätzen wie „Als Teammitglied gebe ich anderen Kollegen bei Bedarf Hilfestellung und packe selber direkt Sachen an die mich stören.“, definiert das Team für sich die nächsten Maßnahmen. Angesetztes Zeitlimit pro Gruppe sind 7min. Bei konsequentem Vorgehen reicht die Zeit in den meisten Fällten aus. Bei Bedarf kann man natürlich auch länger veranschlagen. Jedoch sollte man die Anzahl der Maßnahmen pro Bereich nicht zu groß werden lassen. Eine bis zwei Maßnahmen reichen. Mehr schafft man während den normalen Spintaufgaben sowieso nicht.

Skala mit "Muckerkarten" und Maßnahmen
Skala mit „Muckerkarten“ und Maßnahmen

Nun müssen die Maßnahmen nur noch im Werkzeug der Wahl festgehalten werden. Zur Dokumentation bietet sich Software wie Confluence® oder ein ähnliches Tool an.

Für die bewusste Bearbeitung der Maßnahmen nutzen wir eine Maßnahmen-Board. Über die Spalten TODO, IN PROGRESS und DONE verfolgen wir den Status. Einmal in der Woche nach dem Standup treffen wir uns alle vor dem Board, um den aktuellen Fortschritt zu messen. Da es sich um ein manuelles Board handelt, müssen die Maßnahmen noch gedruckt werden. Wir pflegen deshalb die Tickets in Jira® da es eine gute Druckfunktion bietet. Auch hier kann jede andere Software mit ähnlichem Funktionsumfang genutzt werden.

Damit wären wir mit der Durchführung am Ende. Nun wie versprochen noch die Vorteile, Nachteile und ein kurzes Fazit.

Vorteile

1. Klare Fokussierung auf einen Begriff zur Problembestimmung

Ein Problem kann komplex und verzweigt in unterschiedliche Bereiche sein. Für eine Begriffsdefinition muss dafür das Problem inhaltlich einem Thema, Bereich, Prozess, Aufgabe etc. zugeordnet werden. Deshalb ist es wichtig, dass die Thematik eingegrenzt und möglichst inhaltlich klar ist. Am besten dürfen keine Wiedersprüche und Fehlinterpretationen entstehen. Im Gegensatz zu einer freien Problembeschreibung im Team, bei der viele Faktoren benannt und im Team besprochen werden, läuft dieser Prozesse bei jedem Teilnehmer im Stillen ab und erfordert mehr Überlegungsarbeit im Vorfeld.

2. Eigen- und Fremdreflexion der Problembeschreibungen

Die persönlichen Überlegungen zur Thematik eröffnet eine ersten Blick auf das Thema. Der inhaltliche Rahmen wird dabei mit eigenen Erfahrungen abgesteckt. Die Sichtweise ist aber aufgrund des subjektiv Charakters eingeschränkt. Erst in der Fremdreflexion konsolidiert sich das eigenen Meinungsbild und schafft eine am Team ausgerichtete Wirklichkeit.

3. Spielecharakter

Das Tauschen der Karten wurde durchgängig als schöne Abwechslung und auflockernd wahrgenommen. Es entstand eine Art Spannung im Raum, die von den verdeckten Karten ausging. Keiner wusste welches Wort sich unterhalb der Karten befand. Jeder wollte seine Karte gleich umdrehen, was natürlich streng verboten ist ;-)

Nachteile

1. Spielecharakter

Aufpassen muss man trotz Vorteile mit dem spaßigen Hintergrund. Leicht bekommt solch ein Vorgehen einen kindlichen Beigeschmack und wird demzufolge nicht als präzises Werkzeug in der Durchführung von Retrospektiven wahrgenommen. Es entwickelt sich zum lustigen Zeitvertreib der Spaß bringt. Der Ansehensfaktor sinkt ab und der eigentliche Hintergrund, nämlich eine entscheidende und konsolidierte Problemstellung zu identifizieren, wird verfehlt.

Fazit

Die Methode fördert durch gezielte Spannungspunkte die Aufmerksamkeit im Team. Teilnehmer müssen sich über Ihren Problembegriff im Klaren sein, um stichhaltige und belastbare Argument für die anschließende Diskussion vortragen zu können. In der Vorstellungsrunde bleibt man am Ball und ist gespannt auf das nächste Thema. Die Methode bietet eine gute Möglichkeit, um eingefahrene Retrospektiven im Team aufzulockern. Es bringt Spass, gute Stimmung und fördert eine positiv Atmosphäre. Vorsicht ist jedoch beim „Spielen“ geboten. Durch den kindlichen Beigeschmack schweift die Konzentration schnell ab. Das Vorgehen wird nicht ernst genommen und der Sinn einer zielgerichteten Problemlösung rückt in den Hintergrund. Ein Thema was nur durch konsequente Moderation zu lösen ist. Die Methode ist also etwas für Highlights im eingefahrene Retrospektiven-Alltag welches sich durch den lockeren Rahmen mehr für gefestigte Teams mit Langeweilesyndrom anbietet. Getreu dem Werbeslogan: Retros mit Spielecharakter bieten Spannung, Spiel und Projekterfolg.

Referenzen

[1] Klassische Retrospektive und Ablauf der Phasen: http://bit.ly/1iFTaGV
[2] Langeweile in Retrospektiven: http://bit.ly/1v5dZRG
[3] Neue Methoden für mehr Aufmerksamkeit: http://bit.ly/1yNphyM
Titelbild: http://pixabay.com/p-257489

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Von Daniel Hallmann

Daniel Hallmann, has graduated in Media Computer Science, works for Mayflower GmbH in Munich and holds the Scrum Master, PHP5 and MySQL Developer 5.0 Certification. Currently he intensively covers Scrum agile technologies, information flow and communication behavior in agile development and has published several posts and talks about it.

8 Kommentare

  1. Kenne diese Methode auch aus unserem Unternehmen, sie ist sehr hilfreich, beim herausfiltern von Problemen und dem Finden von neuen Lösungsansätzen! Zwar wird diese bei uns auf eine etwas andere Art durchgeführt aber die Methoden ähneln sich schon sehr!

  2. Danke für die tolle Anregung.
    Interessieren würde mich noch der Tipp zum Mental Break. Leider funktioniert der Link [4] nicht. Könntet ihr den aktualisieren oder hier posten?

    1. Hallo Wolfgang,

      leider scheint der Beitrag [4] dauerhaft entfernt worden zu sein. So weit wie ich mich erinnere, handelt es sich hier um eine psychologische Methode. Diese wird genutzt, um den Übergang von einer Aktivität zu einer zweiten unterschiedlichen Aktivität zu unterstützen. Ziel ist der bewusste Abschluss der ersten Handlung mit der Möglichkeit zur Konzentration auf die zweite Handlung. Beispiel: (i) Ein Entwickler ist vertieft in das Schreiben von Programmcode. Durch eine Aktivität wie Story Cubs, Check In, YouTube – Video, … wird der Fokus unterbrochen und umgelenkt. Danach kann mit der Handlung (ii) wie beispielsweise einer Retrospektive begonnen werden.

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